Kunst im Kasten, Stuttgart
curated by Thomas Ulm

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AMBIVALENZEN

Teil eines Gespräches, das Klub Zwei (Simone Bader und Jo Schmeiser) mit Helga Hofbauer im Dezember 2006 im Café Prückel in Wien geführt haben. 

Helga: Wieso wolltet ihr die Privaträume nicht so gern?

Jo: Dieses Thema ist sowieso sehr unsichtbar im öffentlichen Raum. Wir haben uns gedacht, dass es spannend wäre, gerade das Gegenteil zu machen. Das beeinflusst sicher anders, wenn wir mit dir im Kaffeehaus sitzen, als wenn wir dich zuhause interviewen. [...]

Helga: Ja. Verstehe. Und hat das Prückel eine spezielle Bedeutung für euch?

Simone: Doron Rabinovici hat das Prückel einmal als das Kaffeehaus mit dem Blick auf den größten Antisemiten in Wien beschrieben und das Denkmal von Karl Lueger gemeint.

Helga: Verstehe. […] 

Jo: Das erste Thema ist der Familienhintergrund. Vielleicht magst du uns etwas über deine Eltern, Großeltern zur Zeit des Nationalsozialismus erzählen?

Helga: Ja. Mein Vater war bei der Waffen- SS. Er ist ziemlich jung eingetreten in die Waffen-SS. Er hat sich freiwillig gemeldet mit 16 ca., nehme ich an. Und beide Großeltern, die Eltern meiner Mutter und meines Vaters waren MitläuferInnen. Also keine... Sie haben sich nicht aktiv beteiligt. Sie waren keine Parteimitglieder. Aber ich weiß auch von keinen Widerstandstätigkeiten. Deshalb würde ich sie jetzt als MitläuferInnen bezeichnen. 

Simone: Wie hat deine Mutter deinen Vater kennen gelernt?

Helga: Meine Mutter ist 19 Jahre jünger als mein Vater, d.h. sie ist eigentlich eine andere Generation. Sie ist 1942 geboren und mein Vater ist 1923 geboren. Also ist sie quasi Nachkriegsgeneration, also hat sie das nicht bewusst entschieden im Nationalsozialismus. Und sie haben erst recht spät geheiratet. Erst in den 60er Jahren haben sie geheiratet. Mein Vater hat, nachdem er aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekommen ist, als Buchhalter gearbeitet. Er hat sich dann selbständig gemacht und ein Buch- und Schreibwarengeschäft in einer Kleinstadt in der Südsteiermark aufgemacht, wo ich auch geboren bin und wo auch er geboren ist. […] Und sonst weiß ich von der Geschichte meines Vaters in dieser Zeit noch, dass er gerne Koch werden wollte und dass er sehr sportlich war. Und ich glaube, dass sein Sport ihn auch hingeführt hat zur SS, zu den Nazis überhaupt, aber halt auch speziell zur SS.

Jo: Wie präsent war die Geschichte deines Vaters in der Familie dann nach dem Krieg? Ist darüber geredet worden? Hat er selbst über die Nazi-Zeit geredet und über seine Zeit bei der SS und darüber, was er dort gemacht hat? Oder eher weniger?

Helga: Er hat total viel darüber geredet, geradezu zwanghaft immer wieder die gleichen Geschichten erzählt. […] Er hat auch die SS immer sehr verherrlicht. Oder sie war negativ, aber hauptsächlich war sie positiv. Er hat sie hauptsächlich positiv beschrieben. Und wie gesagt, er hat wahnsinnig viel davon geredet, so viel, dass eigentlich die ganze Familie es nicht mehr hören konnte und nicht mehr hören wollte. Meine Mutter ist auch regelmäßig gegangen, wenn er angefangen hat zu erzählen. Meine Schwester und ich, wir konnten das nicht so richtig: einfach gehen. Wir wollten auch nicht […] diese Distanz einnehmen. Wir wollten auch einfach Platz haben, in der Küche z.B., wenn er erzählt hat und wir haben dann halt immer wieder gegen ihn gekämpft. Wir haben ihm immer wieder widersprochen, und haben, je älter wir wurden […], immer mehr […] eingefordert, dass er still ist, weil es halt auch einfach Psychoterror war […] wirklich immer wieder die gleichen Geschichten, immer das Gleiche zu hören. Und nie ein anderer Standpunkt. Und alles hast du schon gekannt... 

Simone: Und das hat sich dann auch nach eurem Fragen nicht geändert? 

Helga: Es war sehr schwer, daran irgendetwas zu ändern, weil du eigentlich ziemlich schwer durchgekommen bist. Er war sehr [sehr lange Pause] resistent.

Simone: Deine Mutter wusste auch, dass er bei der SS war, als sie ihn kennen lernte?

Helga: Ja, er hat es nicht verschwiegen. Und es gab ein Foto von ihm im Regal im Wohnzimmer, ein Foto mit dieser Kappe mit dem Totenkopf vorne drauf, der SS-Kappe […]. Da gab es ein Foto von ihm in Uniform und mit dieser Kappe. Und das stand da ganz lange.

Simone: Wie war da die kindliche Reaktion auf diese Mütze mit dem Totenkopf drauf? Das war doch wahrscheinlich erschreckend. War er stolz sich so zu präsentieren?

Helga: Ja, ich glaube, das war sein Stolz. Auch so was wie Widerstand aus seiner Sicht. Also so etwas wie: Er räumt das nicht weg! Dieses Bild hat als Kind sehr entfremdend gewirkt, aber ich hab es nicht bedrohlich gefunden. Bedrohlich fand ich eher die Figur meines Vaters, als dieses Bild. […] Es ist so eine Ambivalenz gewesen, einerseits hat er immer wieder darüber geredet und andererseits hat er nie auf Fragen geantwortet oder nie Stellung bezogen zu Sachen, die du jetzt z.B. als Kind wissen wolltest, wie z.B.: Wie ist es dir denn gegangen? […] So etwas hat er ja nie beantwortet, sondern immer nur mit so Phrasen geantwortet. […]

Jo: Gab es für dich einen auslösenden Moment, wo du angefangen hast dich damit zu beschäftigen? […] 

Helga: Mich zu beschäftigen mit der Geschichte quasi von ihm und von mir? […] Sobald ich politisiert wurde in der Schule […] - wir hatten guten Geschichtsunterricht […] - hab ich […] angefangen mir selber eine Meinung zu bilden und nicht nur das nachzubeten, was mein Vater […] erzählt hat. […] Meine Schwester und ich waren dann halt widerständig…, äh, widersprüchlich, äh, wir haben ihm widersprochen. […] Und jetzt hab ich ja angefangen konkret zu forschen nach seiner Vergangenheit: wo er genau war, bei welchen SS-Kommandos und in welchen Teilen von Europa und auch genau jahresgeschichtlich. Ja und das hab ich auch angefangen, weil ich wieder angefangen hab zu schlafwandeln. Ich hab in der Adoleszenz und als Kind, eigentlich hauptsächlich als Kind geschlafwandelt, wobei das ja nicht wirklich ernst genommen wird, weil das ja viele Kinder machen. Ich hab es allerdings schon ernst genommen, als ich es jetzt vor 3, 4 Jahren wieder angefangen habe und dann auch einmal von einem Hochbett runter geflogen bin. Und das war auch ein Grund mich wieder intensiv zu beschäftigen. […] Also eines meiner Kindheitsdramen war, dass mein Vater so eine ambivalente Figur für mich war, weil er einerseits sehr cholerisch und psychisch gewalttätig war und andererseits so stark Empathie und Mitgefühl in mir ausgelöst hat. Das war das Drama meiner Kindheit und Adoleszenz - dass diese Gefühle so stark waren. […] Ich denke, dass sind auch typische Gefühle Tätern gegenüber: dass man sie auch liebt. Dass man interpretiert, dass sie nicht anders können. […] Das hatte ich auch ganz stark. Da erinnere ich mich jetzt wieder daran. Jetzt ist mein Gefühl ihm gegenüber viel klarer, aber damals... Jetzt erinnere ich mich wieder daran. […] Das war damals mein Hauptproblem, dass ich immer total geschwankt bin zwischen Ablehnung und Liebe, oder Empathie, Mitgefühl. […] Weil eine spezielle Situation die war, du fragst, kriegst aber keine Antwort. Du interessierst dich, aber du kriegst einerseits nur gewalttätige Geschichten, die dich abschrecken und […] erschrecken. Und andererseits liebst du die Person, oder hast Mitleid mit ihr, weil sie scheinbar was ganz Schlimmes erlebt hat, weil das natürlich auch spürbar war. Er hat immer von seinen Verletzungen erzählt und wie weh das getan hat, […] Und was er für grauenvolle Dinge gesehen hat als Sanitäter, also er hat sich selbst auch sehr stark als Opfer beschrieben. Und als Kind kommt das halt auch total an. Also du hast diese Rationalität als Erwachsene, die ich jetzt habe: wenn mir Täter von ihrem Opferdasein damals erzählen, dann hab ich jetzt das Wissen und die Macht zur Distanz, dass ich sage: Aha, das ist eine Art von Erzählung, die widerspricht der Geschichte. Aber die hatte ich damals nicht und dadurch war das sehr ambivalent, sehr anstrengend.

Jo: Wie war das in der Schule eigentlich? Du sagst, du hast eine interessante Geschichtslehrerin gehabt? Gab es da auch ein Sprechen über die Familiengeschichte der einzelnen Schüler und Schülerinnen?

Helga: Nein, das gab es nicht. Ich fand, meine Geschichtslehrerin war, im Gegensatz zu meiner Vatergestalt, sehr sachlich und sie hat das ganze Thema sehr sachlich unterrichtet. […] Mir hat das als Kind immer sehr gut getan, wenn Leute sehr rational und sachlich mir gegenüber sind, aber nicht abwertend. Mein Vater hat mit seiner Emotionalität besonders zu diesem Thema die Familie so sehr in Emotionalität verstrickt. Deshalb war für mich Sachlichkeit immer unglaublich entspannend und beruhigend. […] Weil es gibt ja […] diese geschichtlichen Fakten: Wie viele Leute umgebracht worden sind, wer wo wem den Krieg erklärt hat. […] Was mein Vater immer unglaublich relativiert hat, […] was viele Leute seiner Generation ständig machen, nämlich dass sie Fakten […] einfach auf alle möglichen Arten uminterpretieren und umdeuten. [lacht] Das ist im Geschichtsunterricht nicht passiert sondern das war einfach: So war's. Das hab ich damals als sehr, sehr angenehm empfunden. […] 

Simone: Du hast geschrieben, dass du eigentlich von der Erwartung deiner Eltern her ein Junge hättest werden sollen. Glaubst du, es wäre anders gewesen, wenn du ein Junge gewesen wärst und als Junge Fragen gestellt hättest?

Helga: Ja, das wäre sicher anders gewesen. Mein Vater hat mit meiner Schwester und mir in der Kindheit und in der Adoleszenz sehr stark seine, von den Nationalsozialisten so stark geprägte […] Geschlechterrollen-Ideologie ausagiert. […] Er hat uns teilweise wie Jungs behandelt. Aber wir waren halt keine Jungs, das war natürlich klar. Und ich glaube, er hätte Jungs […] noch viel mehr versucht zu beeinflussen. […] Er hat uns immer wieder versucht unglaublich zu beeinflussen...

Jo: Und wie waren diese Beeinflussungen? Oder diese Versuche?

Helga: Na, zum Beispiel hat er immer gefunden wir müssen die Haare kurz haben […]. Und er war […] extrem gegen extravagante Kleidung. […] Er fand halt auch Röcke schön für Mädchen. Und Hosen nicht. Und dann fand er, die Farbe lila ist die Farbe der Huren, die darf man nicht anziehen. Also er hat natürlich auch ein bestimmtes Sittlichkeitsbild vermittelt. Gleichzeitig fand er aber auch, dass Frauen sich so kleiden sollen, dass der Körper zu sehen ist. Also man darf nicht so weites Zeug anziehen. […] Also er hat versucht uns zu beeinflussen, wie wir aussehen […], wie wir sexuell agieren, welche Beziehungen wir führen. […]

Jo: Zuerst hast du gesagt, dass er eher versucht hat, mit euch wie mit Jungs umzugehen? Dann hast du gesagt, dass er sehr viel Wert darauf gelegt hat, dass ihr als weibliche Wesen erkennbar seid. […]

Helga: Na ja, die kurzen Haare z.B., finde ich, das hat eine andere Sprache gesprochen...

Simone: Hat sich das verändert, dass er euch als Kinder mehr wie Jungs behandelt hat und hat sich das in der Pubertät verändert? Ist es am Alter festzumachen und war das fließend oder war es immer gleich?

Helga: Nein, das war sicher nicht immer gleich. Das hat sich verändert mit der Pubertät, du hast recht, ja. […] Aber es war auch immer so ambivalent. Er wollte, dass wir alles wissen, Fahrrad reparieren und elektrische Installationen machen und Konten eröffnen und ich weiß nicht... Was […] halt so die männliche Rolle seiner Ansicht nach ist. Es war, wie alles, sehr ambivalent. [lacht]

Jo: Wenn du sagst deine Mutter war das glatte Gegenteil von deinem Vater, wie hat sie agiert in dem Ganzen?

Helga: […] Sie war Lehrerin und […] freie Pädagogik war ein Ziel von ihr, auch mit den Kindern, dass sie halt alles machen dürfen bis zu dem Punkt, wo es halt einschränkend ist. […] Und sie war sehr stark gegen autoritäre Regelungen. Nicht hundertprozentig, aber relativ gesehen schon. […] Wenn sie […] ausgegangen ist, ist sie lange ausgegangen. Sie hat uns […] vorgelebt, dass sie ihr eigenes Leben führt und sich nicht auf den Haushalt beschränken lässt. […]

Jo: Was hat sie für eine Rolle gehabt, wenn es um die Nazi-Zeit gegangen ist? War sie die, die auch geschaut hat, dass nicht mehr darüber gesprochen wird? 

Helga: Ja.

Jo: Oder gibt es ein Widersprechen gegenüber deinem Vater?

Helga: Nein. 

Simone: Du hast gesagt, dass sie den Raum verlassen hat?

Helga: Ja. Sie wollte über das Thema nicht reden und sie hat auch nie nachgefragt. […] Sie hat auch nie ihre Meinung dazu gesagt. Und wenn ich oder meine Schwester, wenn wir sie gefragt haben oder auch mehr als gefragt haben, also sie richtig gezwungen haben oder in die Ecke getrieben haben, dass sie mal sagt, was sie dazu denkt, hat sie z.B. gesagt, was mir wirklich sehr stark in Erinnerung ist, also sie ist sich sicher, dass mein Vater niemanden umgebracht hat. Das würde sie nie glauben. Das ist mir sehr stark in Erinnerung geblieben. Das hat mich natürlich sehr stark beeinflusst, weil, da war ich, nehme ich an, so 10 oder 12, wie ich das zum ersten Mal […] gehört hab. […] Das hat in mir auch wieder unglaubliche Ambivalenzen ausgelöst... Das war auch so etwas: das kann nicht sein. Sie sagt das so, als wäre das ganz natürlich, aber das kann nicht sein. […]

Jo: Ich finde interessant, was du jetzt beschreibst, dass sie aus dem Zimmer ging oder eher beschwichtigt hat und gesagt hat, sie ist sicher, dass der Vater niemanden umgebracht hat. Es ist schon auch diese Rolle: den sozialen Zusammenhalt zu gewährleisten und nichts zu sagen, damit der nicht gesprengt wird. Wenn sie jetzt sagen würde, ja, er hat sicher jemanden umgebracht, dann wäre der soziale Zusammenhalt wahrscheinlich gefährdet. Was mich jetzt auch so interessiert ist: Wann hast du angefangen mit der Recherche, so vor 2, 3 Jahren, ungefähr, oder? Und zu deinem Vater konkret?

Helga: Ja.

Jo: Und was war da, wie hat die Familie darauf reagiert? Was hat deine Mutter dazu gesagt? Hast du es ihr gesagt? Und wie fand sie das und wie findet sie es jetzt?

Helga: Also, ich hab mich sehr gefürchtet davor, ihr das zu sagen. Ich brauchte aber den Totenschein von meinem Vater, um im Nationalarchiv anzufragen und hab mich sehr gefürchtet sie zu fragen. Und sie hat aber sehr cool reagiert, hat eigentlich nicht sehr viel nachgefragt und mir den Totenschein besorgt. Und jetzt im Laufe der Jahre ist sie immer interessierter geworden und hat auch selber angefangen zu forschen. Also inzwischen hab ich das Gefühl sie akzeptiert es, dass ich forsche. Ich meine, wir krachen immer wieder aneinander, weil ich finde, dass sie halt ein sehr revisionistisches Geschichtsbild hat in der Beziehung, dass sie immer wieder den Opferstatus der Täter ins Gespräch einführt, wo ich jedes Mal natürlich ganz ärgerlich werde […]. Aber, wie gesagt, ich finde, das hat sich […] zum Positiven verändert. […] 

Jo: Was hast du bisher bei deiner Recherche gefunden? 

Helga: Ich hab herausgefunden, dass es im Österreichischen Nationalarchiv nichts zu finden gibt. Ja, dann hab ich eben dadurch, dass ich das meiner Mutter gesagt hab, einige Dokumente, die sie mir auch gegeben hat: Fotos und Ausweise und noch ein paar Dokumente. Und ich hab versucht in diesem Archiv in Aachen in Deutschland Informationen zu bekommen. Die krieg ich jedoch auch nicht als Tochter. Da muss die nächste Angehörige, also meine Mutter, ihr Einverständnis erklären. Das hab ich noch nicht gemacht. […] Also ich hab so ein bisschen Hintergrundinformationen innerhalb der Familie gefunden. Ich habe z.B. eine Tante von mir befragt, ob sie irgendwas über meinen Vater aus dieser Zeit weiß, weil sie eine gute Freundin war. Sie ist keine richtige Tante, sie war eine ganz gute Freundin […] von meiner Großmutter mütterlicherseits und kannte meinen Vater damals natürlich nicht. Aber sie hat mir dann geschrieben, dass ihr Bruder auch bei der SS war […] und über den Werdegang ihres Bruders und über die Geschichte, wie er zur Waffen- SS gegangen ist und wo er war und so weiter. Das fand ich sehr spannend. Mich interessiert schon auch die Einbettung in die Südsteiermark. Graz war eine große Nazi-Hochburg. Schon zu der Zeit, als die Nazis noch illegalisiert waren, hingen schon die Nazifahnen raus. Die waren unter den ersten, die schon vor dem „Anschluss” ihr Interesse lautstark bekundet haben. […]

Simone: Von deiner Mutter wurde eine Einverständniserklärung verlangt, um dir zu ermöglichen zu forschen? 

Helga: Ja. […] Am Anfang hatte ich ganz stark das Bedürfnis nach sachlicher Information, nach Daten und geschichtlichen Informationen. Inzwischen hab ich herausgefunden, wie schwierig es ist solche Daten zu finden. Das ist der eine Punkt. Dann hab ich herausgefunden, dass die Archive es einer auch […] schwer machen oder auch sehr schwer zugänglich sind. Wenn sie auch immer Berechtigungsunterschriften und so weiter von engen Familienangehörigen fordern. […] Das steht halt oft dem entgegen, dass man die ganze Familie konfrontieren muss, um etwas herauszufinden und um ein Ansuchen an ein Archiv zu stellen. Das, find ich, behindert die Arbeit schon. Und deswegen hab ich mich […] auch ein bisschen mehr verlagert, auf familiäre Kontexte oder auch auf Kontexte, wo ich das Gefühl hab, da kann ich Informationen kriegen. Ich überlege im Moment gerade den SS-Freund meines Vaters zu kontaktieren. Der lebt nämlich noch. Der ist aus Norddeutschland. Und das hab ich überlebt, äh überlegt, den zu kontaktieren.

Simone: Du hast es noch nicht überlebt, ihn zu kontaktieren. [lacht]

Helga: Ja, genau. [lacht] Das hab ich überlegt.

Jo: Und den hast du recherchiert oder wusstest du von dem schon früher?

Helga: Ja, von dem wusste ich, der hat uns öfter besucht. Und da waren wir auch mal auf Urlaub als Kinder, meine Schwester und ich. [Pause] Also, wie gesagt, ich hab, was ich eigentlich sehr positiv finde, das Gefühl, dass meine Recherchen jetzt auf mehreren Bahnen laufen. Und ich bin nicht mehr so abhängig von dem Bedürfnis nach Fakten. Das ist nicht mehr mein einziger Weg, um etwas herauszufinden. Sondern es gibt auch Leute. Dass meine „Tante“ mir diesen Brief geschrieben hat war für mich wirklich sehr wichtig. Sie war für mich eine sehr starke Bezugsperson in der Kindheit, auch eine, die immer meinem Vater widersprochen hat, weil sie einfach immer schon eine Sozialistin war und mein Vater immer schon schwarz gewählt hat, also immer schon der ÖVP nahe gestanden ist. Später dann mehr der FPÖ, aber grundsätzlich halt der ÖVP. Sie war die Person, die meine Mutter nie war. Sie hat immer widersprochen. Sie hat sich auch mit ihm auf politische Streitereien eingelassen […]. Sie hat sich ihm gegenüber behauptet. Sie war für mich also total wichtig. Erstens das und zweitens war sie emotional für mich total wichtig. Und dass sie mir das in einem Brief geschrieben hat, das war für mich sehr wichtig, weil dieses Gefühl zu haben, dass die eigenen Verwandten alle mauern, das finde ich schon schiarch. […]

Simone: Du hast auch von Machtmissbrauch deines Vaters gesprochen. Du hattest angedeutet, dass er in der Familie seine Macht missbraucht hat. 

Helga: Ja. 

Simone: Kannst du dazu noch etwas sagen? 

Helga: Na ja, er war ein sehr cholerischer Mensch und hat Macht auf allen Ebenen ausgeübt. Er war vor allem sehr autoritär und er war sehr manipulierend. Ja und ich weiß auch, dass er auch übergriffig war. Mir nicht gegenüber, aber... Das war er auch, aber für mich war er vor allem psychisch übergriffig. […] Er hat deine Grenzen einfach nicht akzeptiert... Er wollte immer Aufmerksamkeit. Er wollte immer, dass du für ihn was machst. Vor allem hat er diese Ambivalenz, die ich […] schon beschrieben hab, […] ausgenutzt. Er hat sie aufgebaut und ausgenutzt, diese Ambivalenz, dass wir ihn als Kinder natürlich auch lieben. Und er hat uns dann halt auch Sachen geschenkt und ist mit uns verreist […] Auf der anderen Seite hat er uns ausgenutzt: emotional. Und beschimpft und herabgesetzt und zwar am laufenden Band, also ohne Pause.

Jo: Was heißt das: emotional ausgenützt?

Helga: […] Er war sehr abwertend und sehr beleidigend. Das meine ich mit ausgenutzt: Dass er einfach seine Position als Vater, der von seinen Kindern Liebe kriegt, weil alle Kinder ihren Vater lieben, ausgenutzt hat und uns dann schlecht behandelt hat. Ja, ich finde das ist ein relativ gängiges Modell. Er hat seine eigenen Bedürfnisse befriedigt und wenn er gemerkt hat..., wie das halt so ist, du kannst ja Kinder auch nicht endlos demütigen, irgendwann wollen sogar Kinder weggehen oder nicht mehr zuhören. Dann hat er halt wieder Eis gekauft... […]

Jo: Und was waren Abwertungen von euch von seiner Seite?

Helga: […] Na ja, alles: dass wir dumm sind, dass wir nichts wissen, dass wir nur so tun, als wären wir gescheit, in Wirklichkeit haben wir keine Ahnung. Also z.B. die Schule, es ging immer sehr stark um die Schule, weil er selber keine Matura [kein Abitur] hatte, also er hat dann in der SS, da gab es die Möglichkeit die Matura zu machen, aber er hat nicht maturiert und er hat auch kein Hochschulstudium. Er war immer ganz schlecht in der Schule. Das hat er auch immer gesagt und er hat uns immer abgewertet. Auch wenn wir gute Noten hatten, wenn wir fanden, wir haben etwas Gescheites gesagt, dann hat er garantiert gleich darauf gesagt, es wäre dumm, so etwas zu sagen. Es ging vor allem um Intelligenz, glaube ich. Das hat er sehr stark abgewertet. […]

Helga: Was ich noch sagen wollte, war, dass er mich auch körperlich abgewertet hat, weil ich halt nicht super dünn war in meiner Kindheit […]. Er hat quasi nie nur so gefunden, du bist zu dick und das ist hässlich, oder so, sondern er hat es immer in einen Kontext gesetzt, [Pause] so ganz klassisch: Du wirst nie einen Mann finden, z.B. […] Und als er gestorben ist, wenn ich mir das jetzt so in diesem Kontext überlege, war ich sehr froh. Sein Tod hat bei mir wieder das Gleiche ausgelöst, was auch schon sein Leben ausgelöst hat, nur noch im verstärkten Maße: nämlich totale Ambivalenz. Einerseits bin ich an ihm gehangen und hab ihn geliebt und andererseits hab ich ihn gehasst und gefürchtet und deswegen war ich total froh, als er tot war. Und andererseits hab ich natürlich, oder was heißt natürlich, ich hab so was wie ein Bild von ihm nicht verlassen können. Ich hab dann auch eine Therapie gemacht deswegen, weil ich das einfach nicht verlassen konnte. Ich bin das nicht losgeworden: dieses Bild von ihm. Es war auch einfach so unglaublich groß und […] prägend während meiner Kinderzeit und […] Jugend. […] Das hat ziemlich lange gedauert, das abzubauen. Also das mache ich immer noch. Hier und jetzt.

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